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Im Spannungsfeld von Struktur und Bedeutung:

Überlegungen zu einer mathematischen Theorie sozio-kognitiver Systeme.


Basierend auf einem Vortrag auf dem 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in der Sektion Soziologische Netzwerkforschung.

Die Mathematik ist eine großartige kulturelle Errungenschaft. Die Sprache der Mathematik ist ein geeignetes Instrument zur Beschreibung und damit zur Erweiterung des Verständnisses von Phänomenen der verschiedensten Art. Auch in der Soziologie bieten mathematische Modelle sozialen Verhaltens eine Perspektive, die dem besserem Verstehen sehr hilfreich sein kann. Mathematische Modelle bieten einen effizienten Weg, theoretische Ideen zu transportieren: die Sprache der Mathematik ist universal aber partiell. Ganz ähnlich wie im Rahmen anderer Begriffssysteme, muss sich auch die mathematische Formalisierung um präzise und konsistente Definitionen bemühen. Mathematische Beschreibungen zwingen zu Explizitheit und Transparenz im Bezug auf die Annahmen, die einer Theorie zu Grunde liegen. Das macht sie angreifbarer vielleicht als diskursive Annäherungen an ein Thema, weil Dinge „festgezurrt“ werden und die Partialität der Beschreibung hervortritt. Auf der anderen Seite aber zeigt es — gerade wenn etwas nicht passt — auch auf Inkonsistenzen der zu Grunde liegenden Annahmen, und eigentlich ist es genau an dem Punkt, wo sich etwas eben nicht leicht in mathematische Formen gießen lässt, an dem der wahre Wert einer Formalisierungsbemühung aufscheint. Meine Erfahrung ist: Etwas formal zu beschreiben (und vielleicht daran zu scheitern) heißt, es besser zu verstehen.

Ein gutes Beispiel sind sicherlich Netzwerke. Netzwerke bieten ein Begriffssystem an, welches sehr gut mathematisch operationalisiert werden kann. Man spricht von Knoten, Relationen oder Kanten und definiert strukturell-statistische Indikatoren zur Beschreibung makro-struktureller Phänomene. Mathematisch ist ein Netzwerk definiert als eine Menge von Knoten (Entitäten) und einer Menge von Links (Relationen) zwischen ihnen. Man kann versuchen sich vor Augen zu führen, was das macht: eine unstrukturierte Menge von Entitäten, von Punkten, die noch keine Koordinaten haben, wird mit Struktur versehen. Ähnlich, wie ein Raum sinnvolle Ordnung in eine Menge von Punkten geben kann, definiert ein Netzwerk eine Struktur, die es erlaubt, Punkte in Relation zu setzen. Dieses Begriffssystem ist zunächst sehr abstrakt, aber findet dadurch eben vielfältig Anwendung auch im Bereich der Soziologie, der Psychologie und der Kognitionswissenschaft.

Auf Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Netzwerkforschung (DGNet) und der Sektion „Soziologische Netzwerkforschung“ der DGS wurde wiederholt die Frage gestellt: „Warum Netzwerke?“ oder „Wozu Netzwerkforschung?“, so dass der Eindruck entstehen könnte, das Feld wisse nicht so recht, was es da eigentlich tue. Sehr divers sind oft die Beiträge, denn es gibt aus soziologischer Perspektive sehr viele Möglichkeiten relationales Denken in Theorieentwicklung und empirische Analyse einzubringen. Qualitative und quantitative Ansätze treffen dort aufeinander und machen sehr gut sichtbar, das mikro-soziologische Annäherungen an die Bedeutungsqualitäten einer Beziehung andere Mittel erfordern als makro-strukturelle Charakterisierungen großer Netzwerkdaten. Und ich denke genau in diesem Dazwischen liegt eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“: wir brauchen Netzwerkforschung, um die „Sprache der Netzwerke“ für soziologische Untersuchungen noch produktiver zu machen. Wir brauchen qualitative Grundlagenforschung, um zu verstehen, was unter Formalisierung und Quantifizierung enthalten bleibt und welche Aspekte verloren gehen, und wir brauchen eine gewisse formale Schärfe, um das, was im Kleinen sehr spezifisch angeschaut werden kann, in eine konsistente Beziehung zu kollektiven Phänomenen zu setzen.

Ich beschäftige mich seit einigen Jahren mit der mathematischen Modellierung von kollektiven Prozessen der Meinungsbildung. Ich möchte besser verstehen, wie wir Meinungen bezüglich komplexer gesellschaftlicher Fragestellungen ausbilden und wie sich neue Formen der massiven sozialen Interaktion auf die entsprechenden kollektiven Austauschprozesse auswirken. Dabei glaube ich, dass implizite psychologische Verarbeitungsprozesse (als Beispiel sei vielleicht „biased processing“ genannt) eine gewichtige Rolle spielen, und ich würde diese Hypothese in meiner zukünftigen Arbeit gerne wissenschaftlich untermauern. Netzwerke als allgemeine Repräsentationsform komplexer Zusammenhänge stellen in diesem Zusammenhang eine elementare Zutat dar und es sind die gewissermaßen die Netzwerkaktivitäten der oben genannten Gesellschaften, die mich zum 40. Kongress der DGS geführt haben.


Strukturelle und inhaltliche Dimension kollektiver Meinungsphänomene

Man kann sich den Fragen kollektiver Meinungsbildung aus zwei Richtungen nähern, die ich hier als strukturelle und inhaltliche Dimension bezeichnen will. Für beide spielen Netzwerke eine wichtige Rolle, und ich möchte dies anhand einiger Analysemethoden illustrieren. Ich habe das Glück, Teil eines Europäischen Projektes zu sein (ODYCCEUS — Opinion Dynamics and Cultural Conflict in European Spaces), in welchem beide Dimensionen ganz explizit mitgedacht sind und Tools entwickelt werden, die es erlauben, Debatten vielschichtig zu analysieren. Die Arbeit an diesen Tools und mehr noch ihre Anwendung im Kontext politischer Diskurse hat mir verdeutlicht, dass es durchaus hilfreich und wichtig ist, aus einem klaren theoretischen Rahmen heraus an Daten heranzutreten, weil die Muster und Phänomene, die die Algorithmen und Modelle sichtbar machen, sonst mitunter schwer einzuordnen und in sinnvolle Relation zu setzen sind.

Twitter ist sicher ein dankbares Medium für strukturelle Analysen. Im Odycceus-Projekt haben wir im Rahmen der Landtagswahl 2019 in Sachsen eine Twittersammlung aufgesetzt, die das Ziel hatte, die Twitteraktivität wichtiger lokaler Akteure und der Accounts in ihrem Umfeld zu beobachten (Gaisbauer et al. 2020). Es wurde im Rahmen von Wahlen und anderer politischer Events oft gezeigt, dass Retweet-Interaktion (also gerichtete Netzwerke zwischen Accounts, Account A zeigt auf B wenn er ihn „retweetet“ hat) Graphen erzeugt, in denen sich Gruppen um politische Akteure relativ klar ausmachen lassen. Das heißt, die kommunikative Funktion eines Retweets ist so ausgerichtet, dass sie homophile Interaktionen befürwortet und dies wird Makro-strukturell als polarisiertes Netzwerk sichtbar (z.B. durch eine Kraft-basierte Einbettung — ein sogenanntes „force layout" — des Graphen, wie in Abbildung 1 links). In unserem Fall, ist ein „AfD-nahes“ Cluster deutlich von einem größerem Cluster geschieden, in denen Vertreter anderer Parteien sind. Twitter erlaubt allerdings mehr. Neben Retweets sind Replies ein häufiges Mittel, um auf andere Beiträge Bezug zu nehmen. Der Reply hat eine wesentlich andere kommunikative Funktion und führt daher zu anderen makroskopischen Mustern. Diese sprechen für eine viel intensivere Auseinandersetzung über die im Retweet-Netzwerk sichtbaren Gruppen hinweg. Das legt zumindest nahe, dass Replies eher eine kommunikative Sphäre der Konfrontation aufspannen, und zwar eine, in der die Proportionalitäten der verschiedenen Gruppen durchaus verschoben sein können.

Twitteranalyse zur Landtagswahl 2019 in Sachsen
Abbildung 1: Twitteranalyse zur Landtagswahl 2019 in Sachsen. Die Methode, die Felix Gaisbauer, Doktorand am MPI in Leipzig, entwickelt hat, erlaubt es, Retweet und Reply Interaktionen in Relation zu setzen. Siehe Gaisbauer et al. (2020) für die detaillierte Analyse. Armin Pournaki, ebenfalls am MPI in Leipzig, hat mit www.twitterexplorer.org ein Tool zur Verfügung gestellt, welches die explorative Analyse der Twitterinteraktion zu aktuellen Themen erlaubt.

Eine Meinung ist immer auch auf ein Thema bezogen. In der Psychologie nennt man das das Einstellungsobjekt. Meinungen bezüglich verschiedener Themen sind dabei nicht unabhängig voneinander, sondern über soziale Gruppen und Populationen hinweg korreliert (Converse 1964; Leuthold et al. 2007; Baldassarri, Goldberg 2014; Daenekindt et al. 2017). Dies kann man durch ein Netzwerk repräsentieren, in welchem die Knoten die Themen sind (z.B. eine Frage aus einem Umfragekatalog) und Links die Korrelation der Meinungen zu verschiedenen Themen (Antworten auf die jeweilige Frage) über eine Population von Befragten hinweg. Ein Beispiel dafür ist in Abbildung 2 links gezeigt. Dieses „Einstellungsnetzwerk“ bezieht sich auf ein Umfrageexperiment von Hawal Shamon vom Forschungszentrum Jülich (Shamon et al. 2019) und zeigt die Korrelationen der Einstellungen zu verschiedenen Energietechnologien über die Population von 1078 Probanden. Es wird sehr schön sichtbar, dass die „grünen“ Technologien (insbesondere die Windtechnologien und Solarkraft) deutlich positiv korreliert sind und auch zwischen Kohle und Gas eine positive Korrelation besteht, wohingegen negativer Korrelationen über diese Themengruppen hinweg vorherrschen. Und ganz so wie man unter „Links“ und „Rechts“ jeweils einen ganzen Zusammenhang von Ansichten versteht, macht die thematische Ordnung von „Grün“ versus „Fossile“ erst durch diesen evaluativen Bedeutungszusammenhang wirklich Sinn.

Netzwerke auf verschiedenen Ebenen von Bedeutung.
Abbildung 2: Netzwerke auf verschiedenen Ebenen von Bedeutung. Links: Netzwerkdarstellung der Korrelationen von Einstellungen zu 6 verschiedenen Energietechnologien auf Basis der in Shamon et al. (2019) erhobenen Einstellungsdaten. Rechts: Ein "handgemachtes" Beispiel eines kognitive-evaluativen Netzwerks, welches generelle Argumentationslinien im Bereich Energie illustriert.

Man muss aber noch tiefer gehen, wenn man die Entstehung solch komplexer Meinungsmuster zu erklären sucht. Um die Konfliktlinien und weltbildlichen Differenzen einer Debatte genauer zu verstehen — das ist gewissermaßen eines der Hauptziele von Odycceus — muss man das, was geglaubt, gedacht und dann gesagt wird, genauer in den Blick nehmen und beispielsweise anschauen, wie eine Meinung begründet und argumentativ vertreten wird. Die verschiedenen Themen sind diskursiv verwoben. Kognitive oder kausale Karten à la Axelrod (2015) oder Thagard (z.B. Findlay/Thagard, 2014) bilden hierfür einen geeigneten Ansatz. In diesen Techniken werden die für einen Themenbereich relevanten Konzepte als Knoten repräsentiert, zwischen denen es kognitive oder kausale Assoziationen gibt (siehe Abbildung 2 rechts). Auch in der psychologischen Einstellungsforschung erfreuen sich solche konnektionistischen Ansätze einiger Beliebtheit. Im Odycceus-Projekt nähern wir uns der maschinengestützten Identifikation solcher kognitiv-evaluativer Karten mit sehr verschiedenen Technologien und ich möchte hier ein Beispiel zeigen, welches auf semantischen Netzwerken basiert (Abbildung 3). Wiederum ist hier ein Netzwerk zu sehen, in dem die Knoten kausale Aussagen bedeuten und gewichtete Kanten die semantische Nähe dieser Aussagen zueinander repräsentieren. Dazu wurden in den Kommentaren der Klimasektion auf TheGuardian.com kausale Aussagen zu Kohle, erneuerbarer Energie und Kernkraft identifiziert und diese dann gemäß ihrer semantischen Nähe als Netzwerk dargestellt (die entsprechenden tools sind verfügbar auf penelope.vub.be). Das Netzwerk ist hier in erster Linie eine effiziente Möglichkeit der Darstellung, welche auch in einer großen Menge von Aussagen jene kausalen Statements sichtbar macht, die verschiedene Themen argumentativ verknüpfen.

Netzwerk kausaler Aussagen in den Kommentaren auf TheGuardian.com
Abbildung 3: Semantisches Netzwerk kausaler Aussagen in den Kommentaren auf TheGuardian.com. Argumente, die verschieden Themen überspannen, finden sich in zentralen Bereichen des Netzwerkes. Auch wenn die (evaluative) Richtung der Argumente bisher schwer mit automatisierten Verfahren zu identifizieren ist, erleichtern solche Netzwerke kausaler Aussagen die empirische Erhebung kausaler Karten.


Sozio-kognitive Systeme

Ich habe diese Beispiele gezeigt, um ein wenig zu umreißen, welche Aspekte und Fragen mich bei der Formalisierung und empirischen Analyse von Meinungsprozessen begleiten. Im Folgenden möchte ich einen Vorschlag machen, der ein wenig mehr Klarheit in unser Denken über das Zusammenspiel von Struktur und Bedeutung im Kontext von kollektiven Meinungsprozessen zu bringen versucht, in dem er beide Dimensionen in einem Modell kommunikativen Handelns zusammenführt.

Die Basis ist eine sozio-kognitive Architektur kommunikativer Akteure, die analytisch zwischen belief systems, Einstellungen und Verhalten unterscheidet. Man könnte an Stelle von „belief systems“ vielleicht auch Weltsicht sagen, aber eigentlich möchte ich eher in einem Netzwerk von Sinneinheiten denken, um möglichst abstrakt und dadurch bedeutungsoffen zu bleiben. Dabei hadere ich bisher mit jedweder Übersetzung von "beliefs" ins Deutsche. Zwischen diesen durchaus kognitiv zu denkenden „Sinn-Entitäten“ bestehen logische oder argumentativ-assoziative Beziehungen, die anzeigen welche beliefs tendenziell kompatibel sind und welche sich eher im Entweder-Oder gegenüberstehen. Das ist in Abbildung 4 als durchgezogene (kompatibel) oder gestrichelte (inkompatibel) Linie zu sehen. Die kognitive Konfiguration der beliefs evoziert bestimmte Einstellungen, die hier in aller Generalität als Verhaltensdispositionen verstanden sein sollen. Und damit ist explizit auch der Akt des Ausdrückens einer Meinung in einem bestimmten sozialen Kontext gemeint. Es ist also angelegt, dass Akteure mit einem „kognitiven Rucksack“ voller Werte, Glaubenssätze und Meinungen in kommunikativen Austausch treten und dass dieser Austausch sozial und institutionell gerahmt ist, durch die zur Verfügung gestellten Möglichkeiten der Kommunikation.

Kognitive Architektur kommunikativer Akteure
Abbildung 4: Kognitive Architektur kommunikativer Akteure.

Meinungen stehen dabei in einer gesonderten Position: sie vermitteln zwischen der Weltsicht des Akteurs und dem, was diesem Akteur widerfährt, wenn er sich in einem bestimmten Kontext äußert. Eine Meinung beispielsweise, die auf keinerlei Akzeptanz in einer bestimmten sozialen Umwelt trifft, wird über kurz oder lang in diesem Kontext nicht mehr geäußert. Eine solche Dynamik kann man sehr gut im Rahmen der Theorie sozialen Feedbacks erklären (Banisch/Olbrich, 2019). Dabei lernen die Akteure in kommunikativen Spielen anhand der sozialen Rewards, die ihnen eine Meinungsäußerung verschafft. In online Kontexten beispielsweise die Anzahl an Retweets oder Likes, die ein Post bekommt. Inwiefern dadurch aber auch die inneren Überzeugungen verändert werden, ist eine wichtige empirische Frage, die bisher wenig erforscht ist. Unsere Experimente (unter Leitung der Soziologen der Uni Leipzig) zeigen, dass soziales Feedback private Meinungen nachhaltig verändern kann, aber die Richtungsbestimmung dieses Effektes ist noch nicht abgeschlossen. Auf der kognitiven Seite ist das Konzept der kognitiven Kohärenz sehr nützlich. Kognitive Kohärenz ist ein Maß für die Gesamtkongruenz einer kognitiven-affektiven Konfiguration und kann auf einem Netzwerk von beliefs und Einstellungen als Anzahl kompatibler Beziehungen zwischen diesen definiert werden (Thagard/Verbeurgt 1998). Dank den Forschungen zu Motivated Reasoning und Biased Processing wissen wir, dass wir einiges tun, um kognitive Kohärenz aufrechtzuerhalten. In der oben genannter Studie zu den verschiedenen Energietechnologien konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die derzeitige Meinung zu einer Technologie die Bewertung von Argumenten deutlich beeinflusst, zugunsten der Argumente, die die bisherige Meinung stützen.

Ein sozio-kognitives System ist eine Population sozial eingebetteter sozio-kognitiver Akteure. Ich habe versucht, das mit Abbildung 5 in ein Bild zu bringen. Aber im Prinzip kann man sich das als ein Netzwerk von Netzwerken denken, so dass Agenten mit einer inneren kognitive-affektiven Konfiguration in einem sozialen Netzwerk interagieren. Ich denke, dass diese Konzeption sehr nützlich ist, vielleicht weil sie die Unterscheidung von Struktur und Bedeutung bis auf die Ebene kommunikativ handelnder Akteure herunterzieht. Es wird explizit, dass geteilte Sinnstrukturen sich in verwandten kognitiv-affektiven Konfigurationen widerspiegeln. Kultur wird — in Anlehnung an kognitive Lesarten (Strauss/Quinn 1997) — als geteilte Repräsentationen von Bedeutung begriffen. Dabei sind die Bedeutungsnetzwerke durchaus komplex und hierarchisch zu denken: während tiefe Schichten des Wissens über eine Gesamtpopulation geteilt werden, können spezifische Themen durchaus nur in bestimmten sozialen Gruppen gleich gesehen werden. Sozio-kognitive Systeme bieten damit eine Struktur an, die es erlaubt, komplexe sozio-semantische Felder formal zu repräsentieren.

Allerdings kommt noch etwas wichtiges hinzu. Denn soziale Austauschprozesse und Interaktionen sind als Handlungsräume angelegt, in denen die Information des Einen nicht unmittelbar auf den anderen übergeht, sondern sich Akteure handelnd auf einander beziehen. Das kann durchaus als ein Kommunikationsspiel im Sinne spieltheoretischer Modellierung verstanden werden. Vermittelt durch soziale Netzwerke treffen Akteure wiederholt in Kommunikationssituationen zusammen, in denen sie gemäß der kommunikativen Spielregeln des jeweiligen Mediums ihre Meinungen einbringen und diese lernend verändern. Dabei können Meinungen prinzipiell auch auf den situativen Kontext oder andere Akteure bezogen sein. Auch die mögliche Emergenz kognitiver Marker von Gruppenidentität soll explizit nicht ausgeschlossen werden. Es ist also angelegt, dass ein sozio-kognitiver Akteur eine (subjektive und nicht notwendigerweise bewusste) Repräsentation der sozio-strukturellen Gegebenheiten vorhalten kann.

Sozio-kognitive Systeme zur Repräsentation sozial geteilter Bedeutung

Ein Beispiel

Das ist natürlich alles ein bisschen abstrakt. Vieles ist offen gelassen. Ich möchte den Vortrag mit einem Beispiel beschließen, das sicherlich viel zu einfach aber eben etwas konkreter ist. Solche Beispiele sind manchmal etwas riskant, und so würde ich Ihnen gerne noch ein Zitat mit auf den Weg geben. Mein Doktorvater Philippe Blanchard hat einmal gesagt: „Die Mathematik ist ein Karikatur der Wirklichkeit“ und in diesem Sinne sollen — ja, müssen — die folgenden Ausführungen verstanden sein.

Nehmen wir an es gibt zwei Akteure: Alice und Bob. Alice und Bob sind Freunde seit Kindertagen. Das heißt, es gibt eine positive soziale Relation zwischen beiden. Nach der Schulzeit hat Alice in Augsburg ein Soziologiestudium begonnen und Bob ist nach Leipzig ebenfalls zum Studium der Soziologie gegangen. Es ergab sich in dieser Zeit selten, dass sie sich getroffen haben. Bob hat sein Studium mit einer Arbeit im Bereich der quantitativen Methoden abgeschlossen, an dem er schon seit einiger Zeit als Hilfskraft tätig war. Er hat im Laufe seines Studiums die Nützlichkeit guter Messungen zu schätzen gelernt und im Austausch mit seinen Lehrern tief verinnerlicht, dass die geisteswissenschaftlich-diskursiven Ansätze sich der Messbarkeit und damit der empirischen Überprüfbarkeit generell widersetzen. Alice hingegen ist in den Genuss einer methodisch eher qualitativ ausgerichteten Ausbildung gekommen. Sie hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit ein Stipendium für eine 6-monatigen Feldstudie in Indien erhalten, um Transformationsprozesse im Kastensystem zu untersuchen. Alice kann mit quantitativen Erhebungen oft nicht viel anfangen, die Indikatoren in ihrem Forschungsbereich verzerren das Bild und wirken in die Konstruktion sozialer Kategorien hinein. Auch sie hat während ihrer Ausbildung ein eher negatives Bild von theoretischen Spielereien und statistisch-formalisierter Sozialwissenschaft vermittelt bekommen und die epistemologische Dichotomie tief verinnerlicht.

Mit dem Beispiel werden also zwei Akteure modelliert, die sich über ihre Ansichten bezüglich eines Themas austauschen. Ich habe das hier heruntergebrochen auf die Frage, ob sich die Soziologie an den Geisteswissenschaften oder an den Naturwissenschaften orientieren sollte. Das Thema (hier die „richtige Art von Soziologie“) ist dadurch charakterisiert, dass eine negative Assoziation zwischen zwei Ansichten existiert, die die Akteure verinnerlicht haben. Dieses eher implizite aber geteilte Wissen führt dazu, dass es für beide Akteure inkonsistent ist, beide Aussagen für wahr oder beide für falsch zu halten.

Ein aktuelles Beispiel
Abbildung 6: Karikatur einer verfahrenen Situation.

Wenn wir nun diese Struktur (positive soziale Beziehung zwischen A und B und geteilte negative Assoziation zwischen den zwei beliefs) als gegeben betrachten, können wir ein Maß für die Kohärenz einer Gesamtkonfiguration von beliefs definieren, welches kognitive Dissonanz und soziale Balance umfasst. Wir können invers dies als ein Maß für die „Spannung“ im sozio-kognitiven System ansehen. 16 verschieden Konfigurationen gibt es in dem gemachten Beispiel, weil es insgesamt 4 belief Knoten gibt, welche jeweils einen binären Zustand (4 hoch 2 = 16) einnehmen können. Eine Konfiguration hoher Spannung ist oben links in Abbildung 7 dargestellt. Alice glaubt, dass keine der Aussagen wahr ist, während Bob der Meinung ist, dass beides wahr ist. Es fällt uns ein wenig schwer, dass zu denken und einzuordnen und das liegt daran, dass eine solche Konfiguration generell instabil ist, weil sie sowohl sozial (disagreement) als auch kognitiv (inconsistence) nicht aufrechterhalten werden kann. Es werden gewisse soziale und kognitive Anpassungsprozesse in Gang gesetzt, welche tendenziell einem Niveau niederer Spannung zustreben. In diesem einfachen Beispiel blicken wir nun auf Prozesse der Veränderung von beliefs und sehen alles andere als gegeben an. Dann kann man jede der 16 Konfiguration daraufhin befragen, in wie fern sie sozial und kognitiv kohärent ist. Dies ist durch die rote Kurve (Potentiallandschaft) in Abbildung 7 illustriert.

Spannungen und Potentiale im Sozio-semantischem Feld
Abbildung 7: Spannungen und Potentiale im sozio-kognitivem System.

Es ergeben sich hier drei Konstellationen, die besonders sind, weil sie Konfigurationen umfassen, die unter der Dynamik stabil sein können. Ein Zustand niedrigster Spannung ist erreicht, wenn Alice und Bob beide entweder das Eine oder das Andere glauben: ein solcher Zustand ist für beide kognitiv kohärent und sozial befriedigend. In der Tat ist es fast unmöglich aus diesem Zustand herauszukommen, ist das System einmal darin gelandet. Verhandelt man ähnliche Ansichten unter Freunden, gibt es wohl eher Tendenzen der weitergehenden Verfestigung. Die zwei anderen „lokalen Attraktoren“ sind da interessanter, weil in ihnen das Potential angelegt ist, auch tiefergehende Veränderungen in Gang zu setzen.

Die Geschichte von Alice und Bob zeichnet den ersten dieser Fälle nach: Alice und Bob haben jeweils für sich ein kohärentes Weltbild entwickelt, nehmen aber einen genau entgegengesetzten Standpunkt ein (rechts unten in Abbildung 7). Wir reichern die fiktive Erzählung noch etwas an. Alice und Bob haben sich nämlich nun nach Abschluss des Studiums schon einige Male getroffen. Sie sind immer noch gute Freunde, doch wenn sie auf ihre Arbeit zu sprechen kommen, geraten sie regelmäßig in Streit. Das belastet ihre Freundschaft zunehmend. Die sozio-kognitive Konfigurationen stellt sie vor ein Dilemma, welches nicht so ohne weiteres durch eine Veränderung der beliefs zu lösen ist. Beiden Akteuren scheint die eigene Meinung kohärent und es ist nicht zu erwarten, dass einer von ihnen die eigene Meinung zugunsten der des Anderen aufgibt. Für beide würde das bedeuten, auch die eigenen, mit Identität verwobenen Leistungen abzuwerten. Der Berg, der in der Energielandschaft zu überwinden wäre, um im konsensualen Ruhezustand zu landen, ist zu hoch. Alice und Bob haben eigentlich nur zwei Möglichkeiten: entweder schaffen sie es, das Thema zu meiden oder ihre Beziehung wird sich an der Auseinandersetzung zu dem Thema reiben und tendenziell verschlechtern.

Das heißt: sozio-kognitive Konfigurationen, bei denen Akteure oder Gruppen von Akteuren verschiedene Ansichten (soziale Inkohärenz) mit tiefer Überzeugung (kognitive Kohärenz) vertreten, haben ein hohes Potential, Prozesse der Rekonfigurationen sozialer Beziehungen in Gang zu setzen. Alice und Bob spiegeln in überzeichneter Form das Spannungsfeld in der deutschen Soziologie: die freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen wird vielleicht genauso wenig aufrechtzuerhalten sein, wie eine gemeinsame Soziologische Gesellschaft, in der die grundlegend verschiedenen Ansichten miteinander in produktive Verbindung kommen.

Aber die Geschichte könnte auch anders erzählt werden und eine Trajektorie nachzeichnen, die in einem Zustand mündet, in dem die Freundschaft zwischen Alice und Bob stabil bleibt und tiefer gehende kognitive Rekonfigurationen nahegelegt werden (links unten in Abbildung 7). Hier haben Alice und Bob sich bereits nach dem Bachelor wiedergetroffen und sind für den Master nach Berlin gekommen. An unterschiedliche Universitäten zwar aber in einer Stadt und sie sind seither in regem Austausch. Bei Hausarbeiten und Abschlussprojekt haben sie sich gegenseitig begleitet und jeweils an den Denkprozessen des Anderen teilgehabt. Alice und Bob haben in ihrer wiederholten Interaktion erfahren, dass die Problembereiche und Fragen in der Soziologie sehr vielfältig sind und sie können sich im Schutz ihrer Beziehung mittlerweile eingestehen, dass der Ansatz des Freundes für dessen Fragen vielleicht besser geeignet ist als der eigene. Allerdings bleibt beiden ein gewisses Unbehagen, denn vieles von dem, was über die Jahre verinnerlicht wurde, ist in Frage gestellt. Auch zaghafte Versuche die neugewonnene Perspektive mit Betreuer oder Kollegen zu teilen, haben eher zu Irritation geführt. Aus dieser Not heraus haben beide beschlossen, sich den Grundlagen ihrer Wissenschaft etwas systematischer zu nähern und sich gemeinsam in ein Seminar zur Geschichte der Philosophie eingeschrieben. Sie haben kognitive Karten der grundlegenden Konzepte des gegenwärtigen Diskurses und ihrer eigenen Denkweise gemalt und für sich eine Lösung gefunden. Bob glaubt an das Primat einer materiellen Realität, der in gewisser Weise alles entspringt, und er kann daher eigentlich wenig anfangen mit der fluiden ontologischen Unsicherheit, der sich die Geisteswissenschaft immer wieder neu nähert. Alice hingegen glaubt das nicht. Ihr phänomenologisches Ideal verbietet es. Aber beide sind mittlerweile übereingekommen, dass das eine Frage des Glaubens ist.

Vielleicht lässt sich die folgende Aussage aufrechterhalten: sozio-kognitive Konfigurationen, die durch soziale Kohärenz und kognitive Inkohärenz charakterisiert sind, tendieren dazu, Prozesse der kognitiven Umformatierungen in Gang zu bringen. Alice und Bob erfahren in ihrer Beziehung wiederholt, dass ihre Ansichten beide Berechtigung haben. Diese Erfahrung steht im Widerspruch zu dem, was beide eigentlich verinnerlicht hatten, und drängt die Akteure zur Versprachlichung und zur kreativen Auflösung dieses Widerspruchs. Der tiefere Grund für die negative Assoziation zwischen den zwei Ansichten wird kommunizierbar und das kognitive Netzwerk beider Akteure erweitert. Alice und Bob gelingt der Perspektivwechsel nun deutlich besser.


Schluss

Ich habe in diesem Vortrag dreierlei getan. Zuerst habe ich versucht, anhand einiger Beispiele aus unserem Odycceus-Projekt die vielfältigen Möglichkeiten zu umreißen, wie man sich kollektiven Prozessen der Meinungsbildung empirisch nähern kann. Symptome gesellschaftlicher Spannungen wie Polarisierung, Radikalisierung und gruppenbezogene Feinseligkeit sind sowohl mit Blick auf den Inhalt der Auseinandersetzung zu betrachten, als auch mit Blick auf ihre sozial-strukturelle Ausprägung. Entwicklungen im Bereich der automatisierten Sprachverarbeitung (NLP) sowie der Computational Social Science (CSS) haben ein reiches Arsenal an algorithmischen Methoden zur Inhalts- und Netzwerkanalyse hervorgebracht, und dieser Vortrag kann als ein Versuch verstanden werden, einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, in welchem sich das, was von den verschiedenen Methoden sichtbar gemacht wird, einordnen lässt.

Ich habe zum Zweiten sozio-kognitive Systeme vorgestellt als eine zunächst abstrakte Möglichkeit der Repräsentation komplexer sozio-semantischer Konstellationen. Diese legen an, dass Akteure mit einer kognitiven Prägung in kommunikativen Kontexten zusammentreffen und sich durch Verhalten im Rahmen der medialen Gegebenheiten aufeinander beziehen. Ich denke wir benötigen solche Modelle kollektiven, kommunikativen Handelns, um beispielsweise besser zu verstehen, welche kommunikativen Bedingungen (z.B. auf verschiedenen Plattformen) tendenziell Spannung aufbauen und was geneigt ist, sie abzubauen. Ich habe versucht zu motivieren, dass ein solches Modell Mechanismen der sozialen Interaktion und intra-individuelle, kognitive Verarbeitungsprozesse in sich vereinen sollte, wohl ahnend, dass dies schwer mit traditionellen Abgrenzungen zur Psychologie zusammengeht und vielleicht Widerstände hervorruft.

Ich habe drittens dann ein Beispiel konstruiert und mit Geschichten von Alice und Bob einen Plausibilisierungsversuch unternommen. Die Analogien, die mit dem Titel des Kongresses „Gesellschaft unter Spannung“ nahegelegt sind, waren dabei eine sehr wertvolle Inspiration. Das Beispiel ist der Bemühung entsprungen, dass einfachste Modell zu finden, in dem wesentliche Aspekte der Theorie vorhanden sind, und ich kann (aus meinem Hintergrund heraus) schwer einschätzen, ob diese Art der Überzeichnung nützlich ist oder eher Verwirrung stiftet. Zumal — ich muss es gestehen — die inhaltliche Ausschmückung eine Eigendynamik bekommen hat, die unerwartet tief in das aktuelle und ganz reale Spannungsfeld der „Gesellschaft deutscher Soziologen“ geführt hat.

Was der Vortrag vor diesem Hintergrund dann aber noch zeigt — und vielleicht ist das ein Viertes —, ist eine Formalisierungsbemühung, die nicht in erster Linie der quantitativ-standardisierten Messung dient, sondern die vielmehr der Bestrebung entspringt, sozialwissenschaftliche und psychologische Begrifflichkeiten in der Sprache der Mathematik verhandelbar zu machen.